Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahr 2022

 „Geschlechtermodelle bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“,

23.–25. Juni 2022 in Oberkirch und Renchen

 

Nach einem Grußwort von Christoph Lipps, Bürgermeister der Stadt Oberkirch, wurde die Tagung vom Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft eröffnet. Danach führten Dirk Werle (Heidelberg) und Jörg Wesche (Göttingen) in das Tagungsthema ein. Den ersten Vortrag hielt Stephan Kraft (Würzburg) zur magischen Praktik des Festmachens in den Simplicianischen Schriften. Es handelt sich hierbei um einen Waffenzauber, bei dem es darum geht, sich vor den Wirkungen von Hieb-, Stich- und Schusswaffen zu schützen. Deutlich wurde, wie die Phantasien der Unverwundbarkeit mit Phantasien eines aus sich heraus gepanzerten Männerkörpers und einer gepanzerten maskulinen Psyche korrelieren. Eine derartige Unverwundbarkeitsmagie war im Sinne einer topischen Hart-Weich-Unterscheidung männlich kodiert, so dass dies geradezu als eine Gender-Leitdifferenz gelten kann. Kraft bot ein vielgestaltiges Bild von den variierenden Bedeutungen und Funktionen des Festmachens in der Romanwelt Grimmelshausens. Klaus Haberkamm (Münster) analysierte en détail astrologische Gendermodelle in Grimmelshausens Ewig-währendem Calender. Ausgehend von Grimmelshausens binärem Geschlechterverständnis in biblischer Tradition und einer oszillierenden Bewertung der Geschlechter im Satyrischen Pilgram, stellte Haberkamm Planetengötter und -kinder als kollektive astrologische Gendermodelle sowie ihre literarischen Manifestationen insbesondere im Simplicissimus Teutsch vor. Das im Ewig-währenden Calender veröffentlichte Apophthegma mit dem Titel „Hermaphroditen“ diente als Referenztext, um den Begriff des Hermaphroditen als diverses Geschlechts- bzw. Gendermodell avant la lettre überzeugend zu interpretieren. Dem Ausschluss von Frauen und heterosexuellem Begehren als Maxime produktiver Weltaneignung im Fortunatus ging Franziska Lallinger (Jena) nach. Sie untersuchte Geschlechterverhältnisse in diesem Roman und konnte zeigen, wie männliches heterosexuelles Begehren als Medium weiblicher Machtokkupation imaginiert wird, welche die ‚natürliche‘ Geschlechterhierarchie gefährdet. Demnach können sich die Protagonisten erst in Distanzierung von den Frauenfiguren und der eigenen Begierde sozial profilieren. Im Fortunatus werde die Exklusion dieser Gefährdung als Prinzip propagiert, das erst eine produktive Welterfahrung verbürge. Entsprechend werden Frauenfiguren und heterosexuelle Begierde negativ und als moralisch verwerflich codiert. Zugleich werde die erfolgreiche männliche Existenzbildung unter Ausschluss des heterosexuellen Verlangens und der Macht, die Frauen als Objekte des Begehrens haben, inszeniert. Jennifer Hagedorn (Würzburg) machte zunächst mit Aspekten der modernen Translationstheorie vertraut, um sich danach den Antikenübersetzungen Johann Sprengs zuzuwenden. Am Beispiel von Vergils Aeneas wurde demonstriert, wie Spreng Anpassungen und Umfokussierungen gegenüber dem Prätext vornahm. Dabei gerieten insbesondere die moralisierenden Gendernormierungen in den Brennpunkt. Mit den Selbstkonzeptionen von Autorinnen in Paratexten der Frühen Neuzeit befassten sich Kerstin Roth (Dresden) und Katharina Worms (Heidelberg). Darin versuchten sich Sophia Elisabet Brenner, Maria Cunitz, Maria Sibylla Merian und Johanne Charlotte Unzer für ihre literarische, philologische, philosophische und naturwissenschaftliche Produktion in einem traditionell männlich dominierten Literaturbetrieb zu legitimieren. Hier nahmen die Autorinnen teils selbstbewusst, teils rechtfertigend Stellung zu ihrem Werk, situierten es in der zeitgenössischen Publikationslandschaft, führten in die Thematik ihrer Darstellung ein und begründeten Nutzen und Ziel ihrer Veröffentlichung. Zwar reflektierten sie auch ihre Rolle als Frau, doch führten sie keinen ‚Kampf der Geschlechter‘, vielmehr erhielten sie Unterstützung und Förderung durch Männer. Zudem bildeten und pflegten alle vier Autorinnen Frauen-Netzwerke und profitierten von diesen.
Zu Beginn des zweiten Tages begrüßte Bürgermeister Bernd Siefermann die Tagungsteilnehmer in Renchen. Nicola Kaminski (Bochum) interpretierte die texteröffnende Schreibszene in Francisco de Ubedas Pícara Ivstina (1605) und in der deutschen Übersetzung Landstörtzerin Ivstina Dietzin Picara (1626). Im Romaneingang setzt sich die zur Feder greifende Pícara intensiv mit dem Problem des Schreibbeginns und der Widerständigkeit ihrer Schreibinstrumente auseinander. Der Vortrag zeigte, wie die in der Schreibszene beschriebene Konfiguration des spanischen Prätextes – die schreibende Frau und der moralische Autor – in der deutschen Ivstina in eine alternative Konfiguration – die schreibende Frau und die widerspenstige Feder – transformiert wurde. Geschlechtermodellen der Opitzschen Argenis-Übersetzungen als Vorbild für Romane Grimmelshausens wandte sich Gudrun Bamberger (Tübingen) zu. In Courasche erfolge eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen literarischen Geschlechtermodellen, die in gegenbildlichen Darstellungen oder Modifikationen einer vermeintlichen Norm mündeten, wie sie in den Argenis-Texten präsentiert werde. Eine Art, die soziokulturelle Reproduktion normativer Geschlechtermodelle auszuhebeln, sei die inszenierte Grenzüberschreitung durch Crossdressing, die zumeist als Täuschungsintention durch Unsicherheitsstiftung im Hinblick auf die Genderidentität erfolge. Sofia Derer (Heidelberg) erörterte Moscheroschs Frauendarstellung im Spannungsfeld von Adaption und Originalität. In diesem Kontext sei zu berücksichtigen, dass es sich beim ersten Teil der Gesichte um eine Übersetzung der Visions de Don Quevedo des ‚Sieur de La Geneste‘ (1632/33) handelt, die ihrerseits auf Francisco de Quevedos Sueños zurückgriff. Dagegen enthält der ab 1643 veröffentlichte Andere Theil der Gesichte größtenteils vorlagenunabhängige Romane. Im Welt-Wesen des ersten Parts nutze Moscherosch Frauenfiguren vornehmlich dazu, den für die Episode thematisch zentralen Widerspruch von äußerem Schein und innerem Wesen aufzudecken. Dabei spitzt seine Übersetzung mitunter die frauenkritischen Tendenzen der Quelle zu. Das Weiber-Lob des Anderen Theils sei demgegenüber komplexer und moderater angelegt: Es werde die frühneuzeitliche Querelle des femmes literarisiert, wobei Moscherosch weniger eine eigene Position in der Streitsache vermitteln als vielmehr traditionelle Argumentationsmuster der Debatte hinterfragen wollte. Im Zentrum des Vortrags von Hans-Joachim Jakob (Siegen) stand die Trias von Maskierung, Begehren und Verwirrung in Georg Philipp Harsdörffers von der Forschung bislang kaum zur Kenntnis genommenen Erzählkompilation Herminia oder Die Verstellung und Verkleidung aus dem Pentagone histoirique (1652). Es wurde dargelegt, dass sich dort die moralische Bewertung von Verkappung und Verstellung stark von der Gestaltung des Crossdressings in Harsdörffers früheren Erzählsammlungen unterscheide. Maskierung erscheine nicht als amüsantes Spiel, sondern als zu verdammende teuflische Camouflage, welche die gottgewollte Ordnung der Geschlechter pervertiere. Gegenstand des Vortrags von Peter Heßelmann (Münster) waren „Libri obscoeni“ und insbesondere Der grosse Klunkermuz (1671). Dabei lotete er auch Lizenzen der literarischen Satire in der Zeit aus. Die zahlreichen pornographischen Elemente des vorgestellten Romans berechtigten dazu, in ihm möglicherweise den Beginn des deutschsprachigen pornographischen Romans zu sehen. Die moralischen Rechtfertigungen des Erzählers und seine Hinweise auf die Gattung der Satire sprächen keineswegs zwingend gegen die vorgeschlagene Revision der Opinio communis der germanistischen Forschung zur pornographischen Literatur, dass die Initialzündung in Deutschland erst Ende des 18. Jahrhunderts anzusetzen sei. Franz Fromholzer (Augsburg) lenkte das Interesse auf männliche Geschlechtermodelle in Miles Gloriosus-Komödien. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurden auf der Bühne Möglichkeiten gezeigt, den vom Krieg geprägten Soldaten in seiner nur vorgeblichen Maskulinität zur Schau zu stellen, damit seine Selbsttäuschung zu dekuvrieren und ihn in die Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Der männliche Held werde als Schauspieler markiert, worin eine komische Verdopplung zu erkennen sei, der jener Überbietungsgestus eigne, mit dem der Protagonist die Szene zu beherrschen sucht. Indem der prahlerische Soldat auf sich selbst verweise, sei er zugleich jene Figur, die neben sich trete und den virilen Habitus als hinterfragbar vor Augen führe. Maximilian Bergengruen (Würzburg) deutete Menantes’ Satyrischen Roman als Paradoxie der Geschlechtscharaktere. Es ging Bergengruen in erster Linie um selbstreflexive Momente der Satiretheorie und -praxis in Bezug auf das dargestellte Geschlechterverhältnis. Er konnte konturieren, wie das satirische Programm die im Roman vorgeführten Geschlechtscharaktere und Geschlechtsstereotype unterläuft.
Der zweite Tagungstag endete in der Mediathek Oberkirch mit einem Podiumsgespräch zwischen Levy Bastos (Rio de Janeiro), Regina Toepfer (Würzburg), Jörg Wesche (Göttingen) und den weiteren Tagungsteilnehmern zum Thema „Geschlechterrollen übersetzen“. Im Mittelpunkt der Diskussion standen Übersetzungsprobleme, mit denen sich Bastos bei seiner Übersetzung der Courasche ins brasilianische Portugiesisch auseinanderzusetzen hatte.
Den Auftakt zum dritten Tag machte Marie Gunreben (Konstanz), die weibliche Ambition und Ambitionslosigkeit im galanten Roman in Augenschein nahm und dabei die problematisierten Motive der standesüberschreitenden Liebe und des sozialen Aufstiegs von Frauen in Christian Friedrich Hunolds Die Liebens-würdige Adalie (1702) sowie in Johann Leonhard Rosts Der verliebte Eremit (1711) verfolgte. In den Geschlechterinszenierungen wurden – so Gunreben – ein neues, naturrechtliches Verständnis von Liebe als Anziehung zweier ‚gleicher Gemüter‘ sowie neue Konzepte von Personalität erprobt. Die galanten Romane umkreisen die Frage, worauf die Liebe zu einem Partner sich gründe, wenn diese nicht mehr primär seinem sozialen und symbolischen Status, sondern nur seiner Persönlichkeit gelte. Nicolas von Passavant (Berlin) beleuchtete ausgehend von Fragestellungen der Affektpoetik und Liebesethik literarische Konzeptionen von Weiblichkeit in Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Heldenbriefen im Kontext neostoizistischer und galanter Ethiken. Dabei wurde auch evident, wie eng der Autor an zeitgenössische Diskurse der Querelle des Femmes anschloss. Zugleich konnte von Passavant nachweisen, dass die ethische und poetologische Kategorie des Großmuts bei Hoffmannswaldau auch von Frauenfiguren vertreten wird. Jens Ole Schneider (Jena) sondierte Potentiale weiblich gekennzeichneter Klugheit von Regentinnen in Sophonisbe von Daniel Casper von Lohenstein und Maria Stuarda von Adolph von Haugwitz. Diese prudentia stehe zugleich auch für die Grenzen absolutistischer Staatsideale und die Differenzierung der politischen Sphäre. Die Herrscherinnen repräsentierten eine verdeckte Politik, die sich gegen die hierarchische Sichtbarkeits- und Beobachtungskultur im absolutistischen Staat behaupte. Zudem diagnostizierte Schneider eine ,Kontaminierung‘ dieses Konzepts im Rahmen weiblicher Klugheitssemantiken und die ,Unterwanderung‘ der mit diesem Blick verbundenen Geschlechterordnung. Mit dem Leben und Werk von Rosina Dorothea Schilling-Ruckteschel und ihren Anschauungen der Geschlechter sowie ihren ehekritischen Diskursen machte Victoria Gutsche (Berlin) bekannt. Die Anwältin für schreibende Frauen hat immer wieder Gender-Probleme thematisiert, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen zur Ehe und zur Frage nach der Rolle und Funktion von Frauen in der Öffentlichkeit. Auf der Basis von pietistischmystischen Denktraditionen und einer spezifischen Bibelexegese propagierte sie ein egalitäres Geschlechtermodell, das – im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Gemeinde – pietistische Positionen erweitert und traditionell vorgegebene Grenzen überschreitet. Die Ausführungen von Joana van de Löcht (Münster) konzentrierten sich auf Anna Rupertina Fuchs und Aspekte weiblicher Autorschaft und Selbstinszenierung. Das wenig bekannte Werk trage Züge einer Übergangszeit: Die literarische Produktion von Fuchs knüpfe an stilistische Ideale, Themen und Darstellungsmodi der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an, überrasche aber durch die Formenvielfalt der Verskunst. Durch die Herausgeberschaft ihres OEuvres von Friedrich Roth-Scholtz und die Rezeption etwa in Johann Christoph Gottscheds Vernünfftigen Tadlerinnen erscheine die Schriftstellerin hinsichtlich der Publikationslogiken und der sie flankierenden Diskurse eher als Repräsentantin des frühen 18. Jahrhunderts.
Nach der Mitgliederversammlung der Grimmelshausen-Gesellschaft fand mit dem traditionellen Abschiedsschmaus im „Silbernen Stern“ zu Gaisbach eine ertragreiche Tagung zum Thema Geschlechtermodelle im Werk Grimmelshausen und in der frühneuzeitlichen Literatur ihr Ende.
Peter Heßelmann (Münster)