Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahr 2020


Tagung

„Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“

06.–07. August 2020 in Münster

Den ersten Vortrag der Tagung hielt Peter Klingel (Münster) zum Thema „Geometrische Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen“. Ausgehend von der traditionellen Vorstellung einer von Gott geordneten Welt, ging er der Frage nach einer Ordnung des Erzählens in Texten Grimmelshausens nach. Dabei hob Klingel auf das Verhältnis von Geometrie und Arithmetik ab und beleuchtete die Frage nach der Proportionalität als Kategorie der geometrischen Weltdeutung. Astrid Dröse (Tübingen) widmete sich Liedern als Erzählelementen bei Grimmelshausen und Eichendorff. Sie arbeitete unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen der Liedeinlagen als Handlungselemente in Texten Grimmelshausens und in Eichendorffs Erzählung Eine Meerfahrt heraus, die pikareske Elemente enthält und Simplicianisches rezipiert. Nicola Kaminski (Bochum) stellte ihren Vortrag unter die Leitfrage „Theil oder Buch?“, wobei sie die Semantiken dieser Bezeichnungen analysierte. Sie sondierte nicht nur das Problem der postulierten „Einheit“ der „Simplicianischen Schriften“, sondern darüber hinaus Implikationen biblionomer Ordnungsmuster zwischen dem Kalkül des Simplicianischen Autors und verlegerischer Kalkulation. Dabei lenkte sie den Blick auch auf die erste sog. posthume Gesamtausgabe der Werke Grimmelshausens und deren besondere Konstruktion, die auf den Nürnberger Verleger Johann Jonathan Felßecker zurückgehen dürfte. ,Letzte‘ Romanfortsetzungen bei Moscherosch, Grimmelshausen, Beer und Reuter rückte Maximilian Bergengruen (Karlsruhe) in den Mittelpunkt seines Vortrags. Er vertrat die These, dass durch Moscherosch und Grimmelshausen eine literarische Tradition und in ihr ein Ordnungsmuster der letzten Fortsetzung etabliert wurde, auf das Beer und Reuter später – wenn auch mit Variationen, die sich aus der Relektüre ergäben, – rekurrierten. Als Form der Einheit in den Simplicianischen Schriften interpretierte Christian Loos (Münster) das Motiv der Fürsprache. Er stellte eine Typologie der Fürsprache vor und bezog sie auf die literarische Darstellung devianter Personengruppen. Zum Abschluss des ersten Tagungstages wurde dem Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft anlässlich seines 65. Geburtstages eine Festschrift überreicht. 

Den zweiten Tagungstag eröffnete Hania Siebenpfeiffer (Marburg), die sich den Darstellungen von Inversionen in Grimmelshausens Œuvre zuwandte. Sie erläuterte, inwieweit die Verkehrte Welt einen Konnex zwischen Recht und Erzählen herstelle, der den Topos der verkehrten Welt auf das imaginative Potential des ,Fabulierens‘ und damit auf das diegetische Vermögen der Fiktion zur ,Welterschaffung‘ zurückdränge. Grimmelshausen erweitere seinen Text zu einem komplexen Spiel dreier ineinander verschachtelter Weltverkehrungen. Sein mundus inversus münde in einer Apotheose der fabula, in der die Fiktion, d. h. Lüge, als jener Modus erscheine, der als einziger die Verkehrung der Welt geraderücken könne, weil in ihm verkehrt, nämlich lügenhaft gesprochen werde. Gleichzeitig werde damit das der christlichen Topik der verkehrten Welt inhärente Heilsversprechen negiert, nach dem ein Jenseits prospektiv die irdische Weltverkehrung mitsamt ihren Ungerechtigkeiten durch ‚höllische‘ Strafen oder ‚himmlischen‘ Lohn kompensieren würde. Gegenstand des Vortrags von Jörg Wesche (Göttingen) war die Monatsdisposition als Gliederungs- und Fortsetzungsprinzip in der Kalender- und Zeitschriftenliteratur sowie in der Erzählprosa und Wissensliteratur der Barockzeit. Verdeutlicht wurde die strukturelle Funktion des Monatsdispositivs für Grimmelshausens Ewig-währenden Calender sowie für monatlich erscheinende Periodika, „Monatsgespräche“ und „Monatsschriften“ von Rist, Francisci und Thomasius. Katharina Worms (Heidelberg) lenkte das Interesse auf den Komplex von Ordnung, Einheit, Autorschaft, historia und fabula hauptsächlich in den Paratexten des Arminius-Romans von Daniel Casper von Lohenstein – dies vor dem Hintergrund des bereits von Zeitgenossen geäußerten Vorwurfs der Unordnung auf der Ebene der Handlung und auf der makrostrukturellen Ebene. Es wurde gezeigt, dass die Begründung der Disposition des Arminius im Zusammenhang mit seiner Positionierung zwischen Wahrheitsgehalt und Fiktionalität stehe, die durch seine Herausgeber und Rezensenten vorgenommen werde. Dabei wurde dem Arminius im Vergleich mit den Konventionen der Gattung Roman einerseits ein Mehr an Wahrheit zugesprochen, andererseits wurde dieses Argument in Bezug auf Lohensteins Umgang mit der Historiographie auch anders funktionalisiert, indem einem Romanautor größere Freiheiten als einem Geschichtsschreiber zugestanden wurden. Dennis Borghardt (Duisburg-Essen) und Carolin Rocks (Hamburg) setzten sich mit der Problematik einer Korrespondenz zwischen der Seele und den Sinnen in Jacob Baldes elegischem Zyklus Urania Victrix auseinander. Es wurde mit Blick auf die Ovid-Rekurse in der Urania dargelegt, dass Balde diese Korrespondenz zwar als siegreichen Kampf der Seele inszeniere, dies aber nicht in Form einer bloßen didaktischen Allegorese, sondern in einem raffinierten intertextuellen Arrangement, aus dem heraus Baldes Seelenmodell zunehmend an Komplexität gewinne. In Anlehnung an die Metamorphosen beschreibe Balde ein mehrdimensionales Seelenmodell im Spannungsfeld einer umkämpften Ordnung im Haus der Seele. Das konturierte Profil der christlichen Seele erschließe sich erst dann gänzlich, wenn man es auch als poetischen Formungsprozess verstehe, der von Baldes Adaptation der ovidischen Referenzgattung des elegischen Heldinnenbriefs bestimmt sei. „Chaos, oder Verworrnes Mischmasch“ – doch „ohne einige Ordnung“? So lautete die Ausgangsfrage von Klaus Haberkamm (Münster), der Grimmelshausens Ewig-währenden Calender mit seiner spezifischen inhaltlichen und formalen Struktur als Dispositionsmodell der simplicianischen Zehn-Bücher-Folge analysierte. Das nicht zuletzt in heuristischhermeneutischer Hinsicht relevante Strukturmodell der ordentlichen Unordnung werde – so Haberkamm – bei Grimmelshausen zu einem anspruchsvollen poetologischen Programm, das der Autor auch in seiner simplicianischen Zehn-Bücher-Sequenz genutzt habe. Er habe seine einschlägigen astrologischen Kenntnisse für die Gestaltung der simplicianischen Zehn-Bücher-Kette eingesetzt: Keiner dieser Romane komme, in unterschiedlicher In- und Extensität, ohne astrologische Passagen aus. In allen zehn Büchern finde sich ein vom Ewig-währenden Calender vorgegebener, in modifizierter Weise elaborierter, d. h. das ganze Spektrum der Möglichkeiten ausschöpfender astrologischer Komplex integriert, der die beherrschende Ordnungsvorstellung der Epoche, die zentrale astrologische Ordnung göttlichen Ursprungs, darstelle. Der astrologische Erzählstrang fungiere zum einen als spezifische und starke Komponente, vielleicht die stärkste, des Zusammenhangs der Simplicianischen Schriften. Zum anderen setze sich dieser astrologische Zusammenhalt unverkennbar ins Verhältnis zum astrologischen Kalender-Lehrbuch und mache es in einem zusätzlichen Sinn als Dispositionsmodell der Zehn-Bücher-Suite kenntlich. Die episodenhafte Struktur der zehn Bücher korrespondiere mit der ‚Parzellen‘-Struktur der Kalenderschrift, die als deren Dispositionsmodell diene. Als solches sei die Abfolge geordnetes Gesamtwerk und zugleich intentional „Verworrnes Mischmasch“. Sylvia Brockstieger (Heidelberg) unter¬¬suchte die Kalendarik als literarische Dispositionsform, behandelte schlaglichtartig ihre Impulse und poetologische Bedeutung sowie ihre disponierende Kraft an Beispielen aus der Wissens- bzw. Gesprächsliteratur (Rist), autobiographisch informierter Erzählliteratur (Bärholtz) und satirischer Romanliteratur (Grimmelshausen). 

Dem letzten Vortrag schloss sich eine Stadtführung an, die unter dem Motto „Europa sucht Frieden – Der 30-jährige Krieg und der Westfälische Frieden“ stand. 

Peter Heßelmann (Münster)